Kurzer Exkurs in die Geschichte der Behindertengleichstellung

Die Einstellung zu Menschen mit Behinderungen hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte und in den verschiedenen Kulturen stark verändert. In vielen Gesellschaften der Vergangenheit wurden Menschen mit Behinderungen stigmatisiert und ausgegrenzt. In der Antike und im Mittelalter galten Behinderungen oft als Strafe Gottes oder als Zeichen von Besessenheit.

Mit der Aufklärung und dem wachsenden sozialen Bewusstsein für Menschenrechte begann sich die Gesellschaft stärker mit den Problemen von Menschen mit Behinderungen auseinanderzusetzen. Die ersten Wohlfahrtsverbände und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen entstanden, allerdings oft mit dem Ziel der Separation statt der Integration.

Nach den verheerenden Auswirkungen der Weltkriege rückte die Situation von Menschen mit Behinderungen stärker ins öffentliche Bewusstsein. So kam es parallel zu den Bürgerrechts- und Frauenrechtsbewegungen in den 60er Jahren in den USA und in Europa auch zu Behindertenrechtsbewegungen, die sich für die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen und den Abbau von Barrieren einsetzten. Diese Bewegungen legten den Grundstein für moderne Gleichstellungsgesetze und Inklusionsstrategien.

Wichtige Meilensteine auf den Weg zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen:

1973: Verabschiedung des Rehabilitation Act in den USA, der Diskriminierung aufgrund von Behinderungen in Bundesprogrammen verbietet.
1990: Einführung des Americans with Disabilities Act (ADA) in den USA, eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes.
2006: Die Vereinten Nationen verabschieden die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK),
die 2008 in Kraft tritt und weltweit die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärkt.

Nach und nach haben viele Länder Gesetze und Richtlinien eingeführt, die die Rechte von Menschen mit Behinderungen schützen und fördern. Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde bisher von mehr als 180 Staaten gesetzlich ratifiziert. Dennoch besteht in vielen Bereichen bis heute eine gesellschaftliche Stigmatisierung und ein mangelndes Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen.

Teilhabe am digitalen Leben

Mit dem Einzug der digitalen Transformation hat sich das Spektrum der Gleichstellungsbemühungen erheblich erweitert. Die Digitalisierung beeinflusst nahezu jeden Aspekt unseres täglichen Lebens – von der Art und Weise, wie wir kommunizieren und Informationen austauschen, bis hin zu Bildung, Arbeit und sozialer Interaktion. Für Menschen mit Behinderungen eröffnet dies einerseits neue Möglichkeiten der Teilhabe, andererseits entstehen jedoch auch neue Barrieren.

Der Übergang zur digitalen Gleichstellung erfordert ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Es geht darum, technologische Innovationen zu nutzen, um Barrieren abzubauen. Technologien wie assistive Sehhilfen, Screenreader, Sprachsteuerungen oder personalisierte Benutzeroberflächen können hierbei eine entscheidende Rolle spielen. Dieser Wandel bietet die Chance, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen auf ein neues Level zu heben. Unternehmen, die diesen Übergang aktiv mitgestalten, können von einem erweiterten Kundenkreis und einer positiven gesellschaftlichen Wahrnehmung profitieren.

Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass Fortschritte in der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen nur durch gesetzliche Massnahmen erzielt wurden. Die meisten Unternehmen handeln im Bereich Barreierfreiheit nicht proaktiv, das hat viele Gründe, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte, aber es zeigt uns, wie entscheidend politische Entscheidungen und gesetzliche Regelungen für den Fortschritt in der Barrierefreiheit sind.

Die digitale Barrierefreiheit, die Menschen mit Behinderungen die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen sollen, werden international durch die WCAG-Richtlinien des W3C definiert. Die erste Version dieser Richtlinien wurde 1999 veröffentlicht und bildet seither die Grundlage für viele nationale Gesetze zur digitalen Barrierefreiheit.

Auch die EU-Normen und Richtlinien basieren auf den Vorgaben der WCAG. Diese werden von den Mitgliedsstaaten eigenständig in nationale Gesetze überführt. Deutschland setzt die EU-Richtlinien beispielsweise durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0), um. In der Schweiz wird die Barrierefreiheit durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und die dazugehörige Behindertengleichstellungsverordnung (BehiV) geregelt.

Allerdings werden die WCAG und die daraus abgeleitenden Gesetzlichen Vorschriften dahingehend kritisiert, kognitive Behinderungen nicht ausreichend zu berücksichtigen. Diese Lücke ist sicherlich auch historisch bedingt. Sie resultiert vor allem aus einer Arbeitswelt, in der noch überwiegend körperlich gearbeitet wurde, was dazu geführt hat, dass für Menschen mit körperlichen Behinderungen bereits einige Verbesserungen erreicht wurden. Für Menschen mit kognitiven Behinderungen besteht hingegen noch ein grosser Unterstützungsbedarf.

Gesetzliche Richtlinien

Übersicht über Richtlinien und Verordnungen zur digitalen Barrierefreiheit

Die Vergangnheit zeigt, dass Fortschritte in der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen nur durch gesetzliche Massnahmen erzielt wurden. Das zeigt uns, wie wichtig weitere gesetzliche Regelungen für den Fortschritt in der Barrierefreiheit sind.

 

Situation 2024 in der Schweiz

Nach eingehender Prüfung im März 2022 kommt der «UNO-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen» zu einem ernüchternden Ergebnis: Die Schweiz verletzt in vielen Bereichen die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die von der Konvention geforderte Inklusion wird auf allen staatlichen Ebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt. Bei allen aufgeführten Gleichstellungsrichtlinien besteht in der Schweiz noch grosser Handlungsbedarf.

So können zum Beispiel die meisten Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung in der Schweiz ihren Wohnort und ihre Wohnform nicht frei wählen. Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung besuchen oft Sonderschulen. Und Informationen zu Wahlen und Abstimmungen sind für viele Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung oft zu kompliziert. (Quelle: https://insieme.ch/thema/inklusion/uno-brk/)

Zudem sind die meisten Richtlinien in der Schweiz nicht verbindlicher Natur, sondern haben nur empfehlenden Charakter. Dies führt dazu, dass sie nur langsam und zögerlich umgesetzt werden.

 

Personengruppen, die von barrierefreien Angeboten profitieren

Die Grafik stellt dar: Sehbehinderte und Blinde: 15%, Hörbehinderte und Gehörlose: 5%, Motorisch-Behinderte: 20%, Kognitiv und psychisch Behinderte: 5%, Analphabeten und Migranten mit geringen Landessprachkenntnissen: 10%, Personengruppen ohne Beeinträchtigung: ca. 65%

Etwa 35% der Schweizer Bevölkerung sind in vielen Bereichen auf barrierefreie Angebote.angewiesen. Der Rest der Bevölkerung profitiert in der Regel auch durch eine einfachere Zugänglichkeit und eine bessere Usability.

 

Barrierefreiheit bietet nur Vorteile aber keine Nachteile

Die Anzahl der Menschen, für die Barrierefreiheit entscheidende Mehrwerte bietet, ist deutlich höher, als die meisten erwarten würden. In der Schweiz gelten rund 22% der Bevölkerung als behindert im Sinne des Gleichstellungsgesetzes, aber in Wirklichkeit profitieren viel mehr Menschen von Accessibility.

Barrierefreiheit betrifft nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch ältere Menschen, Migranten mit ungenügenden Sprachkenntnissen oder funtkionelle Analpabeten. Zählt man diese Personengruppen dazu, kommt man mindestens auf 35% der Bevölkerung, die direkt von Accessibility-Massnahmen profitieren. Aber auch alle anderen profitieren in speziellen Situationen wie schlechter Beleuchtung oder lauten Umgebungen von barrierefreien Lösungen.

Unternehmen sollten daher nicht erst auf gesetzliche Vorgaben warten, die sie zur Schaffung barrierefreier Angebote verpflichten, sondern dies als Chance sehen, ihre Zielgruppen und damit ihre Kundenbasis zu erweitern. Barrierefreiheit verbessert die Nutzererfahrung für alle und schafft Wettbewerbsvorteile.

Wie erwähnt, wurden für Menschen mit körperlichen Behinderungen durch die Umsetzung bestehender Richtlinien bereits einige Verbesserungen erreicht. Viele Websites des öffentlichen Sektors sind bereits für seh- und hörbinderte Menschen optimiert worden.Für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen hingegen ist der Zugang zum digitalen Leben oft noch unzureichend. Kaum eine Website bietet beispielsweise Inhalte in «Leichter oder Einfacher Sprache» an – und wenn, dann vor allem auf Seiten von Organisationen, die sich diesem Thema widmen. Kulturelle oder kommerzielle Angebote, wie Online-Shops, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven Einschränkungen eingehen, sind selten. Dabei gibt es bereits erprobte Konzepte, die vielen Menschen den Zugang zu Informationen erleichtern könnten (siehe dazu auch meinen Blogbeitrag).

Ab Juni 2025 sind in der EU durch dem «Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit» auch private Unternehmen zur Barrierefreiheit verpflichtet. Unternehmen, die ihre digitalen Angebote nicht barrierefrei gestalten, müssen dann mit Bussgeldern und der Schliessung ihrer Angebote rechnen. Das betrifft allein in Deutschland mehr als 3 Millionen Anbieter von Websites und mobilen Apps und auch viele Unternehmen in der Schweiz, die ihre Produkte und Dienstleistunen in der EU anbieten.

Ich gehe davon aus, dass diese gesetzlichen Vorgaben Bewegung in die bislang zögerliche Umsetzung der Barrierefreiheitsrichtlinien bringen werden.

Auf die Gestalter und Entwickler digitaler Angebote kommt also viel Arbeit zu.

 

Anhang

Ausmass von Behinderungen weltweit:

Die folgenden Schätzungen basieren auf globalen Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen internationalen Organisationen.

  1. Sehbehinderte und Blinde: Weltweit leben etwa 1,2 Milliarden Menschen (etwa 15% der Weltbevölkerung) mit einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit, die nicht vollständig durch Sehhilfen korrigiert werden kann.
  2. Hörbehinderte und Gehörlose: Weltweit leben mehr als 1,5 Milliarden Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung. Davon haben etwa 430 Millionen Menschen (rund 5% der Weltbevölkerung) eine als «behindernd» eingestufte Hörbeeinträchtigung
  3. Motorisch-Behinderte: Etwa 2% der Weltbevölkerung haben schwere motorische Behinderungen. Diese MEnschen sind dauerhaft auf Gehhilfen oder Rollstühle angewiesen. Leichte und mässige motorische Einschränkungen sind wesentlich häufiger. Man geht davon aus, dass zwischen 15 % und 20 % der Menschheit körperliche Mobilitätseinschränkungen aufweist und Schwierigkeiten beim Zurücklegen von längeren Strecken, beim Treppensteigen oder bei der Benutzung von Fahrzeugen oder öffentlichen Verkehrsmitteln hat.
  4. Kognitiv und psychisch Behinderte: Nach Schätzungen der WHO sind 15 bis 20 % der Weltbevölkerung von kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen betroffen. Kognitive Behinderungen (intellektuelle Beeinträchtigungen) betreffen ca. 1 bis 3 % und psychische Störungen ca. 15 % der Weltbevölkerung. Studien zeigen, dass etwa 20 – 25% der Menschen mit psychischen Störungen Schwierigkeiten haben, das Internet oder andere gesellschaftliche Ressourcen zu nutzen, insbesondere in Phasen akuter Krankheit oder ohne ausreichende Unterstützung.
  5. Analphabeten und Personen mit erheblichen Lese/Schreibschwächen: Etwa 14% der erwachsenen Weltbevölkerung sind Analphabeten. Hinzu kommen etwa 25% funtkionale Analphabeten, die nur einzelne Sätze lesen oder schreiben können.
  6. Migranten mit geringen Sprachkenntnissen: Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) lebten im Jahr 2020 etwa 281 Millionen Menschen als Migranten, was ungefähr 3,6% der Weltbevölkerung entspricht. Wenn man davon ausgeht, dass etwa 35% der Migranten weltweit Schwierigkeiten haben, sich sprachlich zu integrieren, würde dies etwa 1,5% der Weltbevölkerung betreffen.
  7. Sozioökonomisch exkludierte Menschen: Diese Gruppe ist stark abhängig von regionalen und sozioökonomischen Bedingungen, sodass ihre Anzahl je nach Lebensort erheblich variiert.
    1. Menschen in extremer Armut: Schätzungen zufolge leben etwa 10% der Weltbevölkerung in extremer Armut (definiert laut Weltbank mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag).
    2. Soziale Exklusion: Kriegerische Auseinandersetzungen sowie politische und religiöse Überzeugungen führen weltweit zur gesellschaftlichen Exklusion von Menschen. Man geht davon aus, dass etwa 32% der Weltbevölkerung (etwa 2,4 Milliarden Menschen) von erheblichen sozialen Restriktionen betroffen sind und nur über einen sehr eingeschränkten Zugang zu Bildung, Information und gesellschaftlicher Teilhabe verfügen.

Anmerkungen:

  • Temporäre Behinderungen: Kurzzeitige Beeinträchtigungen durch Krankheiten oder Unfälle erhöhen die Zahl der Betroffenen zusätzlich. Fast jeder Mensch ist zumindestens ein Teil seines Lebens von einer oder mehreren dieser Behinderungen betroffen – durch Krankheit, Unfall oder altersbedingt.
  • Menschen ohne jegliche Behinderung: Unter Berücksichtigung von Überschneidungen und vorübergehenden Behinderungen könnte der Anteil der Menschen ohne jegliche Behinderung weniger als 50% der Weltbevölkerung ausmachen. Vor allem extreme Armut, funktionaller Analphabetismus sowie leichte Behinderungen wie Sehbehinderungen und Mobilitätseinschränkungen betreffen sehr viele Menschen.
  • Altersbedingte Behinderungen: Mit steigendem Durchschnittsalter der Weltbevölkerung wird auch die Zahl der Menschen mit Behinderungen kontinuierlich zunehmen, da der Anteil der Menschen mit Behinderungen mit dem Alter steigt. Um das zu veranschaulichen: In der Schweiz weisen nur etwa 10% der jungen Erwachsenen zwischen 16 und 24 Jahren eine Behinderung im Sinne des Gleichstellungsgesetzes auf, während es bei den über 85-Jährigen schon etwa 40% sind.

Quellen:

  • https://www.who.int/en/news-room/fact-sheets/detail/disability-and-health
  • https://dequeuniversity.com/resources/disability-statistics
  • https://www.who.int/disabilities/world_report/2011/report/en/
  • https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/blindness-and-visual-impairment
  • https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/deafness-and-hearing-loss
  • https://www.worldbank.org/en/topic/disability
  • https://www.worldbank.org/en/publication/poverty-and-shared-prosperity
  • https://www.un.org/development/desa/disabilities/
  • https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1202
  • https://www.who.int/publications/i/item/9789240036703
  • https://www.unesco.org/gem-report/en/efa-achievements-challenges
  • https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html
  • https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-menschen-behinderungen/behinderungen/individuelle-merkmale.html
  • https://migrationdataportal.org/
  • https://ec.europa.eu/eurostat/web/migration-and-citizenship/data/database