In den letzten Jahren meines beruflichen Lebens habe ich mich intensiver mit Barrierefreiheit auseinandergesetzt als zu Beginn meiner Karriere. Ich frage mich manchmal, warum eigentlich. Und ich habe darüber mit Kollegen gesprochen, wie es bei Ihnen aussieht.

In meinen Recherchen habe ich auch immer wieder versucht, Best-Practice-Beispiele für Barrierefreiheit zu sammeln. Dabei ist mir aufgefallen, wie wenige gute Beispiele es gibt. Selbst die Lösungen von Organisationen, die sich mit Barrierefreiheit beschäftigen, sind oft nicht wirklich überzeugend. Woran liegt das?

Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die meisten «Digital Designer» keine ausreichende Ausbildung in dieser Richtung erhalten haben und nur selten für dieses Thema sensibilisiert worden sind. Im Berufsleben führen dann konkrete Auftraggeberwünsche dazu, dass man sich mit diesem Thema auseinandersetzt – sehr selten entscheiden sich Designer von sich aus, sich intensiv diesem Thema zu widmen. Wenn doch, dann meist, weil sie selbst von einer Behinderung betroffen sind oder weil es in ihrem Umfeld, z. B. in der Familie oder im Bekanntenkreis, Menschen mit Behinderungen gibt. So kommt es, dass 90 Prozent meiner Design-Kollegen um mich herum, nur unzureichende Kenntnisse über Barrierefreiheit verfügen. Die meisten Auftraggeber oder Digitalagenturen müssen sich daher an besonders spezialisierte Accessibility-Experten wenden.

Ist das aber nicht ein Armutszeugnis für unsere Branche? Sollte nicht jeder UX Designer über ein solides Know-how zum Thema Barrierefreiheit verfügen?

 

Von WCAG to WTF

Die meisten meiner Kollegen sind der Meinung, dass wenn man einen Kontrastchecker benutzt, ausreichend große Schriften verwendet und Funktionsbeschriftungen so gestaltet, dass sie unabhängig von ihrer Farbe erkannt werden, dann hat man zumindest aus Design-Perspektive genügend getan, um das Thema Barrierefreiheit ausreichend zu berücksichtigen, um den Rest sollen sich dann die Developer kümmern. Ja, der Grossteil der desgin-relevanten WCAG-Richtlinien sind den meisten meiner Kollegen tatsächlich bekannt und werden auch angewendet. Aber genügt das?

Für mich stellen die WCAG-Richtlinien das unterste Level der erforderlichen Massnahmen dar. Sie wurden in erster Linie mit dem Anspruch entwickelt, messbare und bewertbare Qualitätskriterien bereitzustellen, nicht um «Best-Practice-Empfehlungen» auszusprechen – das ist ein wesentlicher Unterschied. Ich behaupte, eine Website, die die Konformitätsstufe AA der WCAG erfüllt, ist aus Sicht von Menschen mit Behinderungen noch lange keine gute Website. Gespräche mit Betroffenen haben mir dies gezeigt und erklären, warum es mir so schwerfällt, eine Best-Practice-Sammlung zu erstellen.

 

Wenn die Richtlinien zur Barrierefreiheit selbst zur Barriere werden

Und das ist auch der Grund, warum die WCAG-Richtlinien so schwer verständlich sind, denn sie sind juristischer Perspektive formuliert worden, was sie extrem schwer anwendbar macht. Ich kenne kaum ein Regelwerk, für das es so viele Hilfs- und Erklär-Websites gibt wie für die WCAG-Richtlinien.

Anstatt sich nur zu fragen, was die gesetzlichen Mindestanforderungen sind, sollten wir uns fragen, was unseren Nutzern am meisten hilft. Als Accessibility-unerfahrener Designer benötige ich mehr Informationen als das, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Die «Deque Web Accessibility Checklist» ist zum Beispiel dabei hilfreich, da sie über die WCAG-Richtlinien hinausgeht und auch Best-Practice-Empfehlungen enthält – klasse!

 

Im Bereich Accessibility folgen wir eher formalen Vorgaben statt Nutzerbedürfnissen

Stellen wir uns vor, wir würden uns als Designer bei der Entwicklung eines Webdesigns ausschliesslich mit gesetzlichen Richtlinien herumschlagen, die wir einhalten müssen. Wer glaubt, dass dabei ein gutes «nutzerzentriertes» Design herauskommt? Ausserhalb der Accessilibty ist jedem Designer klar, dass man Nutzer befragen, Workshops und Nutzertests durchführen muss, um eine wirklich gute Lösung zu entwickeln.

Ich frage nun, wie viele der Websites, die die Konformitätsstufe AA der WCAG erreicht haben, tatsächlich an Menschen mit Behinderungen getestet wurden, wie oft Menschen mit Behinderungen in der Konzeptionsphase befragt oder eingeladen wurden, die Lösungsansätze zu bewerten? Aus meiner persönlichen Erfahrung würde ich sagen, dass nicht einmal bei 5% der Weblösungen der Konformitätsstufe AA so vorgegangen wurde. In der Regel wurde nur der Fachliteratur oder Experten vertraut, die für Menschen mit Behinderungen sprachen. Ist das wirklich ein nutzerzentrierter Ansatz im Sinne der Gleichstellung oder der Teilhabe aller?

 

Website der WCAG-Richtlinien

Selbst die WCAG-Richtlinien sind kein gutes Beispiel für barrierefreies Design. Sie erfüllen bestenfalls ihre eigenen formalen, aber unzureichenden Bedingungen.

 

Ganzheitliche Nutzerperspektive einnehmen

Es wäre nicht nur fair, sondern sogar auch aus reinem Eigennutz viel sinnvoller, in der Konzeption alle Nutzer zu berücksichtigen und nicht nur die häufigsten oder durchschnittlichen Nutzer, wie es häufig im UX-Research und in Testings gemacht wird.

Sich vorzustellen, wie jemand blind ist, oder besser noch, wie jemand, der blind ist, ein Smartphone benutzt, kann für Sehende eine unlösbare Herausforderung darstellen. Menschen ohne Behinderungen können sich oft nicht vorstellen, mit welchen Herausforderungen Menschen mit Behinderungen tagtäglich konfrontiert sind und welche Hilfsmittel wirklich sinnvoll und welche eher überflüssig sind.

Oft erlebe ich, dass sich unsere Auftraggeber eine Vorlesefunktion (ReadSpeaker, Text-to-Speech, …) auf ihrer Website wünschen. Das liegt daran, dass die meisten barrierefreien Weblösungen von Menschen OHNE Behinderungen geplant oder konzipiert werden, ohne die Betroffenen zu befragen, sonst würden sie wissen, dass sehbehinderte Menschen diese Funktion nicht mehr benötigen, (siehe beispielsweise hier).

Daher ist es wichtig, dass die an einem Accessibility-Projekt beteiligten Designer und Entscheidungsträger wirklich «verstehen», was es bedeutet, motorisch behindert, blind oder gehörlos zu sein, und welche Hilfestellungen wirklich sinnvoll sind und welche nicht. Andernfalls können sie keine nutzerzentrierten Lösungen entwickeln, die echte Mehrwerte für Menschen mit Behinderungen bieten.

Um dieses empathische Verständnis zu erlangen, sind Kontakte und Gespräche mit Betroffenen, also den eigentlichen Kernzielgruppen von Barrierefreiheitsmassnahmen, unabdingbar. Nur so können die Bedürfnisse von Nutzern mit Einschränkungen umfassend berücksichtigt werden.

 

das offizielle Signet der Schweizerischen Eidgenossenschaft für Barrierefreiheit

Dies ist das offizielle Signet der Schweizerischen Eidgenossenschaft für Barrierefreiheit (Link zur Quelle). Ist es nutzerzentriert? Sind Menschen mit Behinderungen einbezogen worden? Sicherlich nicht – denn alle von mir zu diesem Zeichen befragten Personen mit Behinderungen fühlen sich nicht durch einen Rollstuhlfahrer angemessen vertreten. Eine im Rollstuhl sitzende Person ist nicht geeignet für eine umfassende Darstellung der Vielfalt von Menschen mit Behinderungen. Außerdem wrid die rote Farbe von vielen mit Gefahr oder Verbot assoziiert. In der Gessamtanmutung wirkt das ganze Zeichen passiv und nicht einladend oder inklusiv.

 

Barrierefreiheit als Pflichtübung des öffentlichen Sektors

Ich erlebe es häufig, dass Auftraggeber zu uns kommen und uns bitten, eine Website «barrierefrei» zu machen. ???

Das allein zeigt mir, dass in der vorhergehenden Konzeptionsphase etwas schiefgelaufen ist. Und es zeigt mir auch, dass die formale Einhaltung der Barrierefreiheitsrichtlinien (zum Beispiel über eine Zertifizierung) als wichtiger erachtet wird als die tatsächliche Orientierung an den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen. Wer einmal mit den Betroffenen darüber gesprochen hat, weiss, wie weit diese Art von Barrierefreiheit am Ziel vorbeigeht und einfach nur mehr Schein als Sein ist.

Fragt Euch selbst: Wieviel Prozent Eurer Personas im letzten UX-Projekt waren Menschen mit Behinderungen? Oder wieviel Prozent Eurer Testpersonen beim letzten Usability-Test? Laut Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz 22 Prozent der Bevölkerung behindert im Sinne des Gleichstellungsgesetzes, d.h. sie haben eine Beeinträchtigung, die ihnen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich erschwert. Habt ihr diesen Anteil bei euren Befragungen und Tests prozentual berücksichtigt?

 

Inklusion im Konzeptionsprozess statt nachträglicher Accessibility-Checks

Warum also nicht bei der nächsten Projektplanung, beim ersten Kennenlerngespräch mit dem Auftraggeber, als erstes über Barrierefreiheit sprechen? Häufig werden Accessibility-Überlegungen erst gegen Ende der Konzeptionsphase angestellt, wenn viele konzeptionelle Parameter bereits festgelegt sind. Glaubt ihr, dass ihr damit die Interessen von Menschen mit Behinderungen angemessen berücksichtigt?

Auch würde ich mich freuen, wenn besonders gute barrierefreie Websites ausgezeichnet würden; und zwar bitte auch von Menschen mit Behinderungen. Mir würde das auf jeden Fall bei meiner Suche nach Best Practice Beispielen helfen und vielen anderen erleichtern, sich an guten Beispielen zu orientieren.

Mal in die Runde gefragt? Warum gibt es eigentlich beim «Best of Swiss Web Award» keine Kategorie «Accessibility»? Häh?