Die Fähigkeit des Lesens stellt in modernen Gesellschaften eine grundlegende Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar.
Es sind jedoch nicht nur Entwicklungsländer, in denen viele Menschen von Leseschwierigkeiten betroffen sind und dadurch von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden. Auch in westlichen Industrienationen haben Millionen Erwachsene erhebliche Schwierigkeiten beim Verständnis selbst kurzer Texte (BMBF, 2019).
Nicht selten ist auch ein unnötig hohes Sprachniveau die Ursache. Informationsanbieter sollten daher prüfen, ob ihre Zielgruppen die Inhalte auf dem gewählten Sprachniveau tatsächlich verstehen können.
Wichtige Informationen sollten für alle Bevölkerungsgruppen verständlich sein und ein inklusives Sprachniveau aufweisen. Dazu gehören beispielsweise Beipackzettel von Medikamenten, behördliche Dienstleistungsbeschreibungen, Sicherheitshinweise und Gebrauchsanweisungen. Dadurch wird eine gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger am gesellschaftlichen Leben ermöglicht und das Risiko von Fehlanwendungen und Missverständnissen verringert.
Inklusive Sprachkonzepte
Konzepte zur Vereinfachung von Sprache gibt es in vielen Sprachen. Im Englischen sind dies “Easy Read” und “Plain Language“, im Deutschen «Leichte Sprache» und «Einfache Sprache».
«Leichte Sprache» entspricht in etwa dem englischen Konzept “Easy Read” und stellt eine stark vereinfachte Form der Sprache dar, die hauptsächlich für Menschen mit kognitiven Behinderungen entwickelt wurde. Sie verwendet sehr kurze Sätze und einfache Wörter.
Ein ähnliches Sprachkonzept, aber weniger streng reglementiert und flexibler in der Wortwahl und Satzlänge, ist die «Einfache Sprache», die dem englischen Konzept “Plain Language” entspricht.
Ich möchte beide Konzepte an einem Beispiel (erster Absatz meines Beitrags) verdeutlichen:
Komplexe Sprache:
Die Fähigkeit des Lesens stellt in modernen Gesellschaften eine grundlegende Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar. Es sind jedoch nicht nur Entwicklungsländer, in denen viele Menschen von Leseschwierigkeiten betroffen sind und dadurch von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden.
Leichte Sprache:
Lesen können ist sehr wichtig.
Viele Menschen können nicht gut lesen.
Diese Menschen haben Probleme, im Alltag mitzumachen.
Einfache Sprache:
Lesen ist sehr wichtig, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Trotzdem gibt es viele Menschen, die Probleme beim Lesen haben.
Übersicht über die Niveaus möglicher Lesekompetenzen

Das Capito-Netzwerk verwendet verschiedene Niveaustufen, die aus dem Bereich der Sprachschulen bekannt sind. Das Niveau A1-A2 entspricht in etwa dem Niveau der «Leichten Sprache». Capito geht davon aus, dass nur etwa 9% der Bevölkerung Texte im Niveau C1-C2 lesen kann. (Quelle: https://www.capito.eu/leichte-sprache)
Einfache Sprache für alle?
Viele Befürworter vereinfachter Sprachkonzepte setzen sich für eine breite Anwendung dieser Konzepte ein. Sie argumentieren, dass auch Menschen ohne spezifische Verständnisschwierigkeiten von Texten in leichter oder einfacher Sprache profitieren können, da komplexe Inhalte dadurch zugänglicher und verständlicher werden.
Sie weisen auch darauf hin, dass unsere Lesekompetenz im Allgemeinen abnimmt, da sich unsere Lesegewohnheiten durch neue Kommunikations- und Informationstechnologien grundlegend verändert haben. Vor allem jungen Menschen fällt es immer schwerer, komplexe Sach- und Fachtexte zu verstehen. Gerade diese würden also von einem einfacheren Sprachniveau profitieren.
Zielgruppen für Leichte und Einfache Sprache

Rund 25% der Schweizer Bevölkerung verstehen komplexe Texte, Fachtexte oder abstrakte Inhalte nicht. Diese Zahlen sind in ihrer prozentualen Gewichtung auch auf andere westliche Industrienationen übertragbar.
Kritik am Ansatz «Einfache Sprache für alle»
Kritiker warnen vor einer sprachlichen und kulturellen Verarmung, da Stilmittel wie Ironie, Witz, Metaphern und andere sprachliche Feinheiten in vereinfachten Sprachformen nur schwer wiedergegeben werden können. Texte verlieren an Tiefe und wirken weniger interessant, was sich wiederum negativ auf die Lesemotivation auswirken kann. Statt einer Vereinfachung der Sprache plädieren sie für eine Förderung der Lesekompetenz durch angepasste Unterrichtsmethoden und die Unterstützung textbasierter Medien.
Inklusion statt Ausgrenzung
Fakt ist jedoch, dass mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in vielen Staaten nun Behörden und Regierungen verpflichtet sind, Inklusion zu fördern und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen voranzutreiben. Dazu gehört auch, öffentliche Informationen für Menschen mit kognitiven Behinderungen und Verständnisschwierigkeiten zugänglich zu machen. Viele Medienprodukte der öffentlichen Hand werden daher künftig auch in Leichter Sprache zur Verfügung stehen.
Daher gibt es bereits eine Reihe von Dienstleistern, die die Übertragung komplexsprachiger Texte in Leichte Sprache anbieten, wie zum Beispiel das «Netzwerk Leichte Sprache» oder «Capito». Denn es ist keineswegs trivial, das entsprechende Regelwerk korrekt anzuwenden. Daher werden auch Schulungen für Personen angeboten, die selbst Texte in Leichter Sprache verfassen möchten.
KI als hilfreiches Werkzeug
Künstliche Intelligenz erweist sich bei der Übersetzung und Überprüfung von Texten in Leichter Sprache als äusserst hilfreich. Capito bietet diesbezüglich ein KI-Tool sowie eine API an. Auch können Pro-Benutzer über ChatGPT ein individuelles GPT-Modell erstellen, was man mit den verschiedenen Regelwerken der Leichten Sprache trainieren kann. Mit diesem Modell ist es möglich, komplexe Texte effizient in Leichte oder Einfache Sprache zu übersetzen. Ich habe ChatGPT mit dem Regelwerk der Leichten Sprache trainiert und muss sagen, es funktioniert ziemlich gut. Probiert es aus, ich habe das trainierte GPT-Modell im Store kostenlos zur Verfügung gestellt: https://chatgpt.com/g/g-gOHdzlPve-include-easy-to-read-plain-language
Nutzerzentriertes UX Design für Leichte Sprache?
Mit der Übersetzung oder dem Verfassen der Texte ist es allerdings nicht getan. Ebenso wichtig sind Fragestellungen zur Informationsarchitektur, Strukturierung der Texte und Ausgestaltung der Benutzerführung, da kognitiv beeinträchtigte Menschen viel empfindlicher auf Usability-Schwächen reagieren als nicht beeinträchtigte.
Die nutzerzentrierte Gestaltung von Inhalten in «Leichter Sprache» steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Es gibt kaum evidenzbasierte Informationen oder Anleitungen dazu. Einen Versuch meinerseits werde ich in meinem nächsten Beitrag in etwa zwei Wochen mit dem Titel «Design für Leichte Sprache» unternehmen. Auch erscheint nächsten Monat (November 2024) ein erstes Fachbuch zu diesem Thema, auf das ich sehr gespannt bin und das ich sicherlich auch hier vorstellen werde.