Viele UX-Strategen betonen immer wieder, dass das Ziel ihrer Arbeit (d.h. jedes benutzerzentrierten Designprozesses) die Entwicklung von Produkten ist, die den Bedürfnissen ihrer Benutzer entsprechen, und dass der Grad der Erreichung dieses Ziels entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg des Produkts ist.

Das ist doch die Maxime, die wir UX Professionals tagtäglich in unseren Verkaufsgesprächen anwenden, oder?

Richtig ist, dass Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen die Hauptmotivation sind, die Kunden – letztlich jeden Menschen – antreiben. So weit, so klar. Aber Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen sind nicht dasselbe und werden oft in einen Topf geworfen oder verwechselt. In den Bereichen User Research und UX führt dies häufig zu einer gewissen Verwirrung über die eigentlichen Ziele des nutzerzentrierten Designprozesses. Eine Differenzierung erscheint daher notwendig.

Ich möchte daher einige Fragen stellen: Woher wissen wir, wann die Bedürfnisse eines Nutzers erfüllt sind, und woher wissen wir, wie weit diese Bedürfnisse erfüllt sind? Wie können wir den Grad der Bedürfnisbefriedigung ermitteln oder messen?

Hmmh … um den Grad der Bedürfnisbefriedigung messen zu können, muss man zunächst einmal diese Bedürfnisse genau kennen – und selbst das ist nicht ganz trivial, wie wir aus unserer praktischen Erfahrung wissen. Aus diesem Grund gibt es die Nutzerforschung. Und wie wird diese durchgeführt? Sehr häufig durch Umfragen und Interviews.

Aber im Ernst: Umfragen helfen hier nicht wirklich weiter. Erstens wissen die meisten Menschen nicht genau, was ihre Wünsche und Bedürfnisse sind. Und selbst wenn wir es wüssten, wäre es immer noch nicht einfach, den Grad der Zufriedenheit zu messen, denn wo liegt das Maximum an Zufriedenheit, wenn es das überhaupt gibt? Zudem beruhen alle Mess- und Prüfverfahren auf subjektiv empfundenen Zuständen, über deren objektive Vergleichbarkeit man lange nachdenken könnte. Und wie misst man emotionale Zustände? Es wird deutlich, dass eine evidenzbasierte Untersuchung nicht so einfach ist.

In der Markt- und Nutzerforschung wird «Zufriedenheit» in der Regel durch eine Befragung der Nutzer oder Kunden gemessen. Das Wesen einer Befragung besteht neben der ihr innewohnenden sprachlichen Subjektivität in dem bereits erwähnten Umstand, dass nicht alle Befragten sich ihrer emotionalen Befindlichkeit voll bewusst sind bzw. in der Lage oder bereit sind, darüber klare Angaben zu machen. Hinzu kommt die Befragungs- bzw. Testatmosphäre, die ebenfalls einen Einfluss auf die subjektiv empfundene Zufriedenheit haben kann. Es ist bekannt, dass die Umgebung während einer Verkostung eine außerordentliche Rolle bei der Beurteilung des Testobjekts spielt.

Die Ergebnisse von Kunden- oder Probandenzufriedenheitsbefragungen können daher nur sehr bedingt zur Beantwortung der Frage herangezogen werden, ob und inwieweit die Kundenbedürfnisse durch ein Produkt tatsächlich befriedigt werden.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Zufriedenheit in hohem Maße von der persönlichen Erwartungshaltung bestimmt wird. Und diese müssen nicht unbedingt mit den tatsächlichen Bedürfnissen übereinstimmen. Sie muss auch nicht immer konstant sein. Die Erwartungshaltung kann aus verschiedenen Gründen unter oder über dem tatsächlichen Bedürfnis liegen. Sie wird sehr stark durch das Nutzenversprechen und den Status quo im Umfeld bestimmt. Mit anderen Worten, was der Konsument in der Branche oder in seinem persönlichen Umfeld erwartet.

 

Eine Erwartung ist ein Wunsch, der auf ein realistisches und erreichbares Mass zugeschnitten ist.

 

Was eine Zeitlang Alleinstellungsmerkmal eines Produktes oder einer Dienstleistung war, kann schnell zum Standard werden. So war der Airbag von Daimler-Benz einige Jahre lang ein echtes Alleinstellungsmerkmal, heute ist er Standard in der Automobilindustrie. Dieses Sicherheitsmerkmal löst keine Begeisterung mehr aus, sondern wird vom Verbraucher beim Erwerb eines neuen Automobils erwartet. Die Erwartungen des Verbrauchers können sich also ändern oder anpassen.

Um beim Beispiel des Airbags zu bleiben: Das Kundenbedürfnis ist in diesem Fall der Wunsch nach größtmöglicher Sicherheit beim Autofahren. Dessen Befriedigung werden wir sicher nie genau messen können und auch nie vollständig befriedigen können. Im Gegensatz dazu sind die Erwartungen je nach Zielgruppe und Branchenumfeld recht gut bestimmbar, so dass deren Erfüllung mit Sicherheit möglich ist.

Wir messen daher in der Regel nur die Erwartungen unserer Nutzer oder Kunden und die subjektiv empfundene Zufriedenheit, inwieweit die eigenen Erwartungen erfüllt oder übertroffen wurden – aber nie, inwieweit das zugrunde liegende Bedürfnis tatsächlich befriedigt wurde. Wir können aber feststellen: Wenn ein Kunde ein Auto als sicherer empfindet als ein anderes, dann ist sein Sicherheitsbedürfnis stärker befriedigt.

Aber: Fühlt sich ein Autofahrer sicherer als ein Autofahrer vor 30 Jahren, der noch nicht einmal einen Airbag kannte? Das wage ich zu bezweifeln. Autofahren ist nach wie vor gefährlich, und das Gefühl von Sicherheit oder Gefährlichkeit wird von anderen Faktoren bestimmt als den tatsächlich vorhandenen Sicherheitsmerkmalen. Entscheidend sind auch hier die jeweiligen Erwartungen sowie die Erfahrung und das Wissen über Autounfälle und deren Häufigkeit. Ein Bedürfnis wie Sicherheit wird subjektiv empfunden und kann leicht beeinflusst werden.

Ein Bedürfnis ist ein Gefühl oder eine Empfindung des Mangels oder der Mangelvermeidung. So ist unser Bedürfnis zu essen die Folge davon, dass wir Hunger haben. Ein Wunsch hingegen ist ein zielgerichteter Gedanke. Ein Wunsch kann mehrere Bedürfnisse befriedigen oder umgekehrt: Ein Bedürfnis kann sich in mehreren Wünschen manifestieren.

Ein Wunsch sagt auch nichts darüber aus, ob das zugrunde liegende Bedürfnis tatsächlich befriedigt werden kann oder nicht. Beispielsweise wünscht sich ein Kind einen Schokoriegel, wenn es Hunger hat, auch wenn es sicherlich bessere Möglichkeiten gibt, dieses Bedürfnis zu stillen. Auch gibt es Wünsche oder Bedürfnisse die nicht befriedigt werden können, wie zum Beispiel der Wunsch nicht sterben zu müssen.

Eine Erwartung schliesslich ist ein Wunsch, der auf ein realistisches und erreichbares Maß zugeschnitten ist, z.B. lange zu leben, gesund zu bleiben, möglichst oft glücklich zu sein.

So geht es beispielsweise beim Autokauf nicht darum, ob das Bedürfnis nach «Sicherheit» tatsächlich befriedigt wird (was nicht möglich ist), sondern darum, inwieweit ein Auto als sicherer wahrgenommen wird als andere, d. h. inwieweit sich der Fahrer sicher «fühlt» und nicht inwieweit er tatsächlich sicher «ist».

Laute Staubsauger werden immer noch bevorzugt, weil die meisten Verbraucher glauben, dass leise Staubsauger weniger saugen als laute. Erfüllt ein Unternehmen wirklich die Kundenbedürfnisse, wenn es einen leistungsstarken, aber leisen Staubsauger entwickelt? Sicher, aber es erfüllt nicht die Erwartungen der Kunden.

Vielleicht wird es das, wenn der Staubsauger entsprechend vermarktet wird. Dieses Beispiel zeigt, dass es bei UX nicht nur um die Produktentwicklung geht, sondern auch darum, wie Produkte erklärt, vermarktet und beworben werden.

Entscheidend für die subjektiv wahrgenommene «User Experience» ist also, ob sich die Nutzer durch die Anwendung sicherer, glücklicher oder jünger fühlen und nicht, ob sie es durch die Anwendung tatsächlich werden.

Das bedeutet, dass die «subjektiv empfundene Zufriedenheit» eine viel größere Rolle bei der Kaufentscheidung spielt als die tatsächliche Wirksamkeit oder Bedürfnisbefriedigung.

Das bedeutet nicht, dass die Kundenzufriedenheit nicht auch von der Wirksamkeit oder dem Nutzen des Produktes beeinflusst wird. Aber in der Regel nicht deshalb, weil die Wirkung oder der Nutzen prinzipiell auf eine tatsächliche Bedürfnisbefriedigung zielt, sondern eher auf ein bestimmtes Nutzenversprechen. Denn ex existieren auch völlig nutzlose und unwirksame Produkte, welche erfolgreich vermarktet werden. Man denke da nur an den Grossteil der Anti-Falten-Cremes und Haar-Tinkturen, deren Unwirksamkeit wissenschaftlich bewiesen ist. Dennoch lassen sich Millionen von Menschen nicht davon abbringen, koffeinhaltige Shampoos und andere wissenschaftlich erwiesenermaßen unwirksame Produkte zu verwenden.

Dennoch lassen sich Millionen Menschen nicht beirren und kaufen nach dem Motto «Die Hoffnung stirbt zuletzt» koffeinhaltige Shampoos und andere Produkte, deren Unwirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist.

Als Fazit unserer Betrachtungen können wir daher festhalten:

Es ist unerheblich, inwieweit ein Produkt die tatsächlichen Bedürfnisse seiner Nutzer befriedigt. Die subjektiv empfundene Zufriedenheit spielt sowohl bei der Kaufentscheidung als auch bei der Nutzung eine grössere Rolle als der tatsächliche Nutzen oder die Wirksamkeit eines Produktes und entscheidet über den Erfolg oder Misserfolg eines Produktes und seiner Vermarktung. 

Viele UX Professionals sind sich dieser Tatsache teilweise bewusst, aber wir tun immer noch so, als wäre User Experience völlig anderes als Werbung. Niemals persuasiv, sondern immer auf die wirklichen Bedürfnisse der Nutzer ausgerichtet.

Mittlerweile sehe ich das nicht mehr so. UX-Professionals beeinflussen mit ihrer Arbeit die Realität der Nutzer in allen Bereichen – zum Teil grundlegend und zum Teil auch sehr überzeugend.

Wir sollten aufhören zu leugnen, dass wir UX Professionals nichts mit der Beeinflussung menschlichen Verhaltens zum Nutzen zahlender Auftraggeber zu tun haben. Denn genau das ist es, was wir tun.

Meiner Meinung nach ist das in vielen Bereichen okay, aber es gibt Bereiche, in denen die potenziell tiefgreifenden Auswirkungen unserer User Experience uns über ethische Implikationen nachdenken lassen sollten.

Ist beispielsweise die Herbeiführung eines vermeintlich verkaufsfördernden Zustands für eine Handvoll Kunden wichtiger als eine umfassendere Bedürfnisorientierung – beispielsweise auch im Hinblick auf Nichtnutzer, die stets von Produktherstellung und -entsorgung betroffen sind?

Natürlich kann die Cola aus der Plastikflasche oder das Formfleisch aus der Massentierhaltung lecker schmecken und durch die strategisch richtige Verknüpfung der «Touchpoints» dem Konsumenten eine angenehme «Customer Journey» mit einem gewissen Lebensgefühl von Sorglosigkeit und Zufriedenheit bescheren. Aber erzählen Sie mir nicht, dass Sie dabei helfen, die wirklichen Bedürfnisse dieser Verbraucher zu erfüllen. Sie helfen in erster Linie Ihrem Auftraggeber, seinen Profit auf Kosten seiner Kunden zu maximieren. Das ist doch unsere Aufgabe, oder?

 

 
Eine erfolgreiche nutzerzentrierte Gestaltung fokussiert sich mehr auf die Erwartungen der Nutzer als auf ihre zugrundeliegenden Bedürfnisse.