Eine «User Experience» – eigentlich jede Erfahrung, die wir machen – ist ein Konstrukt unseres Geistes, also unserer Kognition. Sie hat mehr mit unserer «Innenwelt» zu tun als mit der Aussenwelt oder dem, was wir gemeinhin als «Realität» bezeichnen.
Das klingt für einige eventuell ziemlich ungewöhnlich. Das liegt aber nur daran, dass sich viele von uns kaum Gedanken über die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse machen, die ständig in uns ablaufen. Die wenigsten beschäftigt es, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir beispielsweise eine neue Person kennenlernen, etwas lesen oder eine Website benutzen.
Die konstruierte Wirklichkeit
Zunächst einmal sollte man sich bewusst machen, dass nicht alle Informationen, die unsere Sinne aufnehmen, auch verarbeitet werden. Man schätzt dass wir etwa 11 Millionen Bits an Informationen pro Sekunde über unsere Sinne empfangen, jedoch können wir nur etwa 40 Bits an Informationen pro Sekunde verarbeiten*1. Viele Informationen werden deswegen zunächst ein Mal «weggefiltert». Die Auswahl trifft unser Gehirn sehr schnell, ohne unser Bewusstsein mit einzubeziehen – man spricht hier von einer «präattentiven Verarbeitung».
Auch die verbleibenden Informationseinheiten, die für eine Weiterverarbeitung herangezogen werden, stehen uns nicht «bewusst» zur Verfügung. Sie werden erst Mal stark angepasst, bevor sie, angereichert mit Vorwissen und hypothetischen Annahmen, in unser Bewusstsein transportiert und dort weiterverarbeitet werden.
Was wir meinen objektiv wahrzunehmen, ist das Produkt eines hochkomplexen Verarbeitungsprozesses unseres Gehirns.
Ähnlich wie eine Anwendung wie ChatGPT uns eine recht einfache Benutzeroberfläche präsentiert, während im Hintergrund hochkomplexe Prozesse ablaufen, stellt uns das menschliche Bewusstsein eine „benutzerzentrierte Realität“ zur Verfügung, die für uns nur einen winzigen Bruchteil der Informationen darstellt, die uns umgeben, und nur ein kleines Abbild dessen ist, was unser Gehirn tatsächlich verarbeitet und speichert.
Zudem weist unser kognitiver Verarbeitungsprozess „bauartbedingt“ einige Besonderheiten auf. Das liegt unter anderem daran, dass unser Gehirn extrem flexibel sein muss, weil anscheinend niemand genau wusste, welche Fertigkeiten Menschen irgendwann benötigen würden. Unsere «Fähigkeit zu lesen» ist ein gutes Beispiel dafür – sie ist evolutionsgeschichtlich gesehen eine sehr junge Erfindung (siehe dazu auch meinen Blog-Beitrag: Was passiert in unserem Kopf wenn wir lesen). Dennoch ist unser Gehirn aufgrund seiner hohen Flexibilität in der Lage, nicht nur Lesen zu lernen, sondern auch andere, völlig ungewohnte Dinge. Es kann sich sogar umstrukturieren, um wiederkehrende Aufgaben schneller, effizienter und vor allem intuitiver zu erledigen. Diese erstaunliche Eigenschaft wird als «Neuroplastizität» bezeichnet.
Bei blinden Menschen werden z.B. Hirnareale, die eigentlich für die Verarbeitung visueller Reize zuständig sind, für andere Fähigkeiten freigegeben und eingesetzt. So haben blinde Menschen einen sensibleren Tast- und Hörsinn als Sehende. Ausserdem können sie gesprochene Sprache viel schneller verarbeiten. Wer einmal erlebt hat, wie ein Blinder einen Screenreader benutzt, weiss, wovon ich hier spreche.
Selektive Wahrnehmung und kognitive Verzerrungen
Aufgrund unserer begrenzten Verarbeitungskapazität in Bezug auf das Überangebot an Informationen muss unser Gehirn zwangsläufig viele Prozesse möglichst einfach und effizient erledigen. Dabei werden bekannte Lösungswege bevorzugt, komplexe Strukturen und Sachverhalte stark vereinfacht und gerne Abkürzungen bei der Problemlösung genommen.*2
Allerdings bringt dies in bestimmten Situationen auch Schwierigkeiten mit sich. Häufig kommt es zu so genannten Verzerrungen, d.h. zu Abweichungen zwischen dem objektiv zu erwartenden Ergebnis und dem Ergebnis unseres subjektiven Verarbeitungsprozesses.
Manche dieser Verzerrungen sind so allgegenwärtig, dass sich unsere normativen Erwartungen an diese Fehlinterpretationen angepasst haben. Dafür gibt es in der Wahrnehmungsforschung und in den Kognitionswissenschaften Hunderte von Beispielen, die durch zahlreiche Studien belegt sind.
Ich nenne hier nur zwei Beispiele. Für diejenigen, die sich für dieses Thema näher interessieren, habe ich am Ende dieses Beitrags etwas sehr interessantes.
1. Optische Mitte
Der Effekt der optischen Mitte beschreibt eine Verzerrung bei der Beurteilung von Objekten. Wenn wir gebeten werden, die exakte vertikale Mitte eines Objekts zu bestimmen, neigen wir fast alle dazu, diese etwa zwei bis drei Prozent höher zu definieren, als sie geometrisch oder mathematisch tatsächlich ist. Wir haben uns so sehr an diese Verzerrung gewöhnt, dass uns Positionierungen etwas oberhalb der geometrischen Mitte harmonischer und natürlicher erscheinen als die exakte geometrische Mitte, und wir bevorzugen sie.
Teilweise unbewusst, aber auch bewusst setzen wir die optische Mitte im Design oder in der Raumgestaltung ein. So werden Bilder in einem Rahmen oder Texte auf einer Buchseite meist vertikal höher positioniert als ihre geometrische Mitte. Auch liegen die Mittelstriche unserer Buchstaben alle in der optischen Mitte. Wären sie in der geometrischen Mitte, würden sie sich «falsch platziert» anfühlen – also auf uns unharmonisch wirken.
Die Ursachen für diese Verzerrung sind wissenschaftlich nicht hundertprozentig geklärt. Es gibt verschiedene Theorien – wahrscheinlich ist es eine Kombination aus dem Effizienzstreben unseres Gehirns und einer frühkindlichen Konditionierung.
Effizienzstreben
Wie schon angeführt, beruht das Effizienzstreben unseres Gehirns vor allem auf der Beschränkung unserer kognitiven Fähigkeiten. Aus diesem Grund ist für viele Probleme die optimale Lösung zu zeit- und ressourcenaufwändig. Zur Lösung dieser Probleme greift unsere Kognition daher auf vereinfachende Entscheidungsstrategien (sogenannte Heuristiken) oder bereits vorhandene Lösungswege und Ergebnisse zurück, um möglichst schnell zu einer guten, aber nicht zwangsläufig exakten oder optimalen Lösung zu gelangen. Dies ist auch bei der Beurteilung der Mitte von Objekten der Fall.
Konditionierung
Die Konditionierung beruht darauf, dass unser Gehirn von frühester Kindheit an viel mit der Interpretation von Meta-Informationen zu tun hat, die uns über Gesichtsausdrücke, also Mimik, vermittelt werden. In unserer zwischenmenschlichen Kommunikation ist es extrem wichtig, ad hoc zu erkennen, in welcher Stimmung sich unser Gegenüber befindet. Dabei spielt sich die Mimik fast ausschliesslich im unteren Gesichtsbereich ab – unser Fokus liegt also auf Mund, Nase, Augen – der obere Kopfbereich (Stirn, Haare) wird nur peripher wahrgenommen. Er wird quasi weggefiltert und tendenziell weniger beachtet. Dies führt zu einer Übergewichtung und Überschätzung der unteren Gesichtshälfte.

Der obere Teil des Kopfes, insbesondere der Haarbereich, wird von uns unterbewertet wahrgenommen, da sich die Mimik hauptsächlich in der unteren Kopfhälfte abspielt.
Die Übergewichtung oder Überhöhung des unteren Gesichtsbereiches ist so allgegenwärtig, dass wenn man Menschen (die keine professionellen Zeichner, Künstler oder Fotografen sind) bittet, ein Gesicht zu zeichnen, diese die Augen meist viel zu hoch ansetzen*3. Anatomisch gesehen liegen sie nämlich fast genau in der Mitte des Kopfes.

Die Abbildung zeigt eine Zeichnung eines Erwachsenen, der gebeten wurde, sich selbst zu zeichnen. Mehr als 95% der Personen, die keine zeichnerische Ausbildung erhalten haben, positionieren Augen viel zu hoch im Kopf.
Wie bereits erwähnt, ist die Interpretation von Gesichtern für uns so wichtig, dass das Prinzip der Überhöhung der unteren Gesichtshälfte quasi universell auch auf andere Bereiche übertragen wird. Der Fachbegriff dafür lautet «Selektive Verfügbarkeit». Er umschreibt die Tatsache, dass unser Gehirn bestimmte Ergebnisse und Vorgehensweisen, die wir häufig erfolgreich angewendet haben, leichter verfügbar macht. Als Implikation werden diese Muster oder Informationen in unseren kognitiven Prozessen häufiger angewendet, als uns manchmal lieb ist – auch bei Aufgaben oder Problemlösungen, die mit der ursprünglichen Aufgabe rein gar nichts zu tun haben. In diese Richtung geht auch unser zweites Beispiel:
2. Ankereffekt
Der Ankereffekt beschreibt die Tendenz von Menschen, sich bei Schätzungen oder Entscheidungen stark vom Kontext oder einer unmittelbar vorliegenden Information – dem sogenannten Anker – beeinflussen zu lassen, auch wenn dieser Anker mit der eigentlichen Fragestellung nichts zu tun hat.
In einer Studie von Tversky und Kahneman*4 wurden Versuchspersonen gebeten, ein Glücksrad zu drehen. Das Glücksrad gab ihnen eine Zahl zwischen 0 und 100. Anschliessend sollten die Probanden schätzen, wie viel Prozent der Mitglieder der Vereinten Nationen afrikanische Länder sind. Die Ergebnisse waren verblüffend, denn die zuvor durch das Drehen des Glücksrades erhaltenen Anker beeinflussten die Schätzwerte signifikant. Der Mittelwert aller Schätzungen lag bei 45%. Der Mittelwert der Schätzungen von Personen, die zuvor eine Zahl von 10 oder weniger am Glücksrad gedreht hatten, lag jedoch nur bei 25%.

Mit dem berühmten Anchoring-Experiment zeigten Tversky und Kahneman, wie Probanden von einer zufällig erscheinenden Zahl unbewusst beeinflusst werden, wenn sie anschliessend eine Schätzfrage beantworten müssen.
Wie kommt es zu dieser Verzerrung?
Die so genannte Ankeraufgabe (Drehen des Glücksrades und Erhalten einer zufälligen Zahl) aktiviert Gedächtnisinhalte, die zur Ankerzahl passen, und stellt diese für nachfolgende Aufgaben in leicht abrufbaren Bereichen unseres Gedächtnisses zur Verfügung. Die Informationen in diesen Arealen werden dann bevorzugt genutzt, selbst bei Aufgaben, die mit der ursprünglichen nichts zu tun haben.
Praktische Bedeutung
So kommt es, dass das, was wir erleben und zu wissen glauben, ein Produkt unserer Kognition und leider auch gezielt eingesetzter Täuschungen ist.
Allein dadurch, dass wir über die allgegenwärtigen Medien häufiger oder emotionaler über bestimmte Themen oder Behauptungen informiert werden, gewichten und bewerten wir diese anders als Themen, zu denen wir eher selten informiert werden. Dies kann dazu führen, dass wir bestimmte Risiken masslos überschätzen, nur weil Medien verstärkt darüber berichten.
So schätzt der überwiegende Teil der Menschheit das Risiko, von einem Hai angegriffen zu werden, wesentlich höher ein als das Risiko, von einer herabfallenden Kokosnuss erschlagen zu werden*5. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit genau umgekehrt. Allerdings wird die Nachricht über einen Hai-Unfall von uns intensiver wahrgenommen und wahrscheinlich wird über Hai-Angriffe auch häufiger in den Medien berichtet als über Strandgäste, die von herabfallenden Kokosnüssen erschlagen werden.
Anker können in auch Verhandlungssituationen eine entscheidende Rolle spielen. So hängt beispielsweise die subjektive Einschätzung von Verlust oder Gewinn sehr stark vom ersten Angebot ab, das den weiteren Verhandlungsprozess massgeblich beeinflussen kann. So bieten Verkäufer und Online-Shops Produkte gerne zunächst teuer an, um sie dann deutlich zu reduzieren, so dass der Eindruck entsteht, der Preis sei nun extrem günstig.
Auch Experten sind nicht völlig frei vom Ankereffekt. Studien*6 belegen, dass Richter, Gutachter und Geschworene in der Vergangenheit dadurch massiv manipuliert wurden. In diesem Zusammenhang gibt es weitere Methoden, die teilweise bewusst oder unbewusst eingesetzt werden, um uns in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen, wie z.B.
Diese Grundsätze müssen nicht zwangsläufig zu unserem Nachteil angewendet werden. Wenn sie richtig eingesetzt werden, können sie sogar einen entscheidenden Beitrag zu einer hohen Usability und User Experience leisten.
Viele UX/UI Designer, die wissen, dass unser Kurzzeitgedächtnis begrenzt ist oder dass sie Benutzer überfordern können, wenn sie ihnen zu viele Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen (Hick’sche Gesetz), können durch die Anwendung kognitiver Prinzipien die Usability, wenn nicht sogar die gesamte User Experience, deutlich verbessern. Es ist daher sehr wichtig, die dafür nötigen kognitiven Prinzipien zu kennen.
Aus diesem Grund habe ich in den letzten Monaten einen möglichst umfassenden Überblick über die kognitiven Grundsätze, die für eine gute User Experience eine grosse Rolle spielen, zusammengestellt und freue mich, diese hier vorstellen zu können:
cognitive-ux.com
Die Website umfasst derzeit die 72 wichtigsten kognitiven Prinzipien, die für eine User Experience eine Rolle spielen können. Es gibt eine Suchfunktion, eine Filteroption und die Möglichkeit, eine Favoritenliste anzulegen. Jede Woche werde ich auf meiner LinkedIn-Seite ein Gesetz oder Prinzip näher vorstellen, begleitet von konkreten Anwendungsbeispielen.
Quellenangaben:
*1: Tor Nørretranders (1998): The User Illusion: Cutting Consciousness Down to Size.
Das Verhältnis von 10 Millionen zu 40 Bit/s wurde von Tor Nørretranders ermittelt. Da die Erhebungsmethoden (z.B. das Aufsummieren der Wahrnehmungsmodalitäten und die Umrechnung ins “Bit/s”) mit zahlreichen Annahmen behaftet sind, sind die Werte als Richtwerte zu betrachten. Studien belegen jedoch, dass die bewusste Wahrnehmung nur einen Bruchteil der vom Gehirn empfangen Reize umfasst.
*2: Herbert A. Simon (1956): Rational choice and the structure of the environment, in: Psychological Review, S. 129–138; doi:10.1037/h0042769.
Herbert A. Simon legt dar, dass Menschen bei der Informationsverarbeitung durch unterschiedliche Faktoren in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Zu diesen Faktoren zählen ungenügende Informationen, begrenzte Zeit, begrenzte Aufmerksamkeit und begrenzte kognitive Ressourcen. Menschen wählen daher nicht immer die optimalste, sondern angesichts dieser begrenzten Ressourcen in der Regel die erste akzeptable Lösung.
*3: Betty Edwards (1979): Drawing on the Right Side of the Brain. Los Angeles: J. P. Tarcher.
In diesem Standardwerk des Zeichenunterrichts wird erläutert, wie Anfänger beim Zeichnen eines Porträts bestimmte Gesichtsproportionen verzerrt wiedergeben. U.a. nennt Edwards das häufige Platzieren der Augen zu weit oben als typisches Schema, das aus unserer mentalen Vorstellung eines „Gesichts“ resultiert.
*4: Tversky, A. & Kahneman, D. (1974): Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, 185(4157), 1124–1131, https://www.science.org/doi/10.1126/science.185.4157.1124
*5: Dass wir das Risiko eines Haiangriffs überschätzen, liegt an der sogenannten Verfügbarkeitsheuristik (engl. Availability Heuristic). Dramatische und medienwirksame Gefahren (wie beispielsweise Haiattacken) prägen sich besser in unser Gedächtnis ein als alltäglichere Gefahren.
*6: Englich, B., Mussweiler, T., & Strack, F. (2006): Playing Dice With Criminal Sentences: The Influence of Irrelevant Anchors on Experts. Personality and Social Psychology Bulletin, 32(2), 188–200, https://doi.org/10.1177/0146167205282152
Weiterführende Informationen:
Alessandra Rodrigues Eismann (2023): Cognitive Bias im UX Research, https://www.centigrade.de/de/blog/cognitive-bias-im-ux-research-ein-survival-guide/
Charlotte Ruhl, Harvard Universit (2023): Cognitive Bias: How We Are Wired to Misjudge, https://www.simplypsychology.org/cognitive-bias.html